„1968“ und die externalisierte Revolution
Keywords:
Neunzehnhundertachtundsechsig, Studentenrevolte, Bundesrepublik Deutschland bzw. BRD, Deutsche Demokratische Republik bzw. DDR, Westbindung, Geschichtsphilosophie, Kolonialismus, antikolonialistische Befreiungsbewegungen, Revolution, Universitätsreform, RAF, TerrorismusAbstract
Durch die Erinnerung an das Symboljahr "1968", das zumindest für ein ganzes Jahrzehnt steht, sind die Tatsachen in großen Zügen bekannt, zumal sie fünfzig Jahre danach in den Medien vielfach in Erinnerung gerufen worden sind. Durch den Protest gegen den Vietnamkrieg internationalisiert, wurden die mit der Studentenbewegung verbundenen Konflikte in unterschiedlichen Ländern zugleich zum Katalysator für Auseinandersetzungen um jeweils spezifische nationale Problemlagen.
Aus deutscher Sicht kann ein Aspekt der Ereignisse ›2 x ›68‹ genannt werden, nämlich die Differenz zwischen den entgegengesetzten symbolischen Ereignissen des ›Pariser Mai‹ für die BRD und der Niederschlagung des ›Prager Frühlings‹ für die DDR. Das eine war mit Revolutionsphantasie aufgeladen, das andere mit dem Ende jeglicher Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des Staatssozialismus verbunden.
Unter den theorieorientierten deutschen Verhältnissen waren das ›ganz Andere‹ (Theodor W. Adorno) und die Emphase der Utopie (Ernst Bloch) beflügelnde gedankliche Überschreitungen des status quo und boten die (Neu-)Entdeckung der Marx’schen Kapitalismuskritik überraschende Deutungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Realität, wenngleich nicht selten in scholastische und doktrinäre Selbstisolierungen einmündend.
Eine Störung der gesellschaftlichen Ordnung war die Studentenrevolte allemal, aber war es auch eine Revolution? Dieses Wort bekam eine Deckung vor allem durch den Import aus den Befreiungsbewegungen im Prozess der Dekolonialisierung, sodann durch die Mythisierung des von Mao Tse-tung angeführten ›Langen Marsches‹ und die kubanische Revolution samt die mit dem Namen Che Guevaras verbundene Ausbreitung auf ganz Südamerika. Aber die Revolution im eigenen Land blieb aus. Und doch hatte ›1968‹ durchaus seinen Anteil an einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Was in den Epizentren Berlin und Frankfurt entstanden war, wurde als ›Kulturrevolution‹ in fast allen Universitätsorten und schließlich im ganzen Land ›nachgespielt‹ und verband sich mit unterschiedlichsten anderen Formen des Aufbegehrens.
Vielleicht kam in Deutschland die wirkliche ›Revolution‹ aber erst im Zusammenhang mit der Liberalisierung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, also mit dem, was merkwürdigerweise mit einem Wort von Egon Krenz die ›Wende‹ heißt.
References
Albrecht, Clemens. 2018. Umziehende Götter. In Merkur 72 (September 2018) 832:65–70.
Beaucamp, Eduard. 1985. Werner Tübke – Arbeiterklasse und Intelligenz. Eine zeitgenössische Erprobung der Geschichte. Frankfurt a. M.: Fischer.
Brecht, Bertolt. 1967. Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. In Gesammelte Werke. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bude, Heinz. 2018. Adorno für Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968. München: Hanser.
Diner, Dan. 1993. Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland. Frankfurt a. M.: Eichborn.
Fanon, Frantz. 1969. Die Verdammten dieser Erde. Mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre [frz. zuerst 1961]. o.O. [Reinbek b. Hamburg].
Frei, Norbert. 2008. 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. München: dtv/Bundeszentrale für politische Bildung.
Gabriel, Sigmar. 1999. Regierungserklärung des Ministerpräsidenten. In Niedersächsischer Landtag. 14. Wahlperiode. Stenografischer Bericht der 38. Sitzung am 15.12.1999, S.3595–3607.
Gerchow, Jan. 2008. Die 68er. Kurzer Sommer – lange Wirkung. Hrsg. Andreas Schwab, Beate Schappach und Manuel Gogos [Ausstellung Historisches Museum Frankfurt a.M.]. Frankfurt a. M.
Habetha, Klaus. 1995. Wissenschaft zwischen technischer und gesellschaftlicher Herausforderung. In Die Rheinischen-Westfälische Technische Hochschule Aachen 1970–1995. Aachen: Einhard.
Hodenberg, Christina von. 2018. Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte. München: Beck.
Hollstein, Walter. 1981. Die Gegengesellschaft. Alternative Lebensformen, 4., erw. Aufl. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
Kocka, Jürgen. 1998. Historiker im Nationalsozialismus. In Sektion "Deutsche Historiker im Nationalsozialismus" beim 42. Deutschen Historikertag in Frankfurt am Main am 10.9.1998.
Lübbe, Hermann. 2007. Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten. München: Fink.
N.N. 1977. Wir warn die stärkste der Partein. Erfahrungsberichte aus der Welt der K-Gruppen. Berlin: Rotbuch.
Opp, Karl-Dieter. 1995. Die Veränderung der Lebensverhältnisse nach der Wende. Anlass für eine neue Revolution? In Gesellschaften im Umbruch. Verhandlungen des 27. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle an der Saale 1995, Hrsg. Lars Clausen. Frankfurt a. M./New York: Campus.
Rehberg, Karl-Siegbert. 2002. Der doppelte Ausstieg aus der Geschichte. Thesen zu den „Eigengeschichten“ der beiden deutschen Nachkriegsstaaten. In Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Hrsg. Gert Melville und Hans Vorländer, 319–347. Köln/Weimar/Wien: Böhlau.
Rehberg, Karl-Siegbert. 2003. „Mitarbeit an einem Weltbild“: Die Leipziger Schule. In Kunst in der DDR. Eine Retrospektive der Nationalgalerie [Ausstellungskatalog], Hrsg. Eugen Blume und Roland März, 44–59. Berlin: Nationalgalerie.
Rehberg, Karl-Siegbert. 2009. Künste als Medium der Sichtbarkeit und der Überblendung von Macht: Werner Tübkes „Arbeiterklasse und Intelligenz“ als Exempel. In Strategien der Visualisierung. Verbildlichung als Mittel der politischen Kommunikation, Hrsg. Herfried Münkler und Jens Hacke, 169–191. Frankfurt a. M./New York: Campus.
Rehberg, Karl-Siegbert. 2018. „1968“ in der Provinz? Die Demokratisierung der RWTH und ein „Geistergespräch“ zwischen Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen. In Flashes of the Future. Die Kunst der 68er oder Die Macht der Ohnmächtigen, Hrsg. Andreas Beitin und Eckhart Gillen [Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Aachener Ludwig Forum für Internationale Kunst 2018], 52–57. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Tilly, Charles. 1993. Die europäischen Revolutionen [engl. zuerst 1993]. München: Beck.
Ullrich, Volker. 1998. Späte Reue der Zunft. Endlich arbeiten die deutschen Historiker die braune Vergangenheit ihres Faches auf. Die Zeit 17.9.1998.
Downloads
Published
How to Cite
Issue
Section
License
Beiträge im Verhandlungsband des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie werden unter der Creative Commons Lizenz "Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International (CC BY-NC 4.0)" veröffentlicht.
Dritte dürfen die Beiträge:
-
Teilen: in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten
-
Bearbeiten: remixen, verändern und darauf aufbauen
unter folgenden Bedinungen:
-
Namensnennung: Dritte müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden
-
Nicht kommerziell: Dritte dürfen das Material nicht für kommerzielle Zwecke nutzen