Prekäre (Sorge-)Arbeit, prekäre Lebenszusammenhänge
Anerkennung/sdefizite bei prekär Beschäftigten und deren Wahrnehmung
Keywords:
Anerkennung, Prekarität, subjektive Wahrnehmung, prekäre Beschäftigung, Qualitative Sozialforschung, GeschlechterforschungAbstract
Mit Prekarisierung werden zunehmend unsichere Erwerbs- und Lebenslagen beschrieben. In der Prekarisierungsforschung ist das Interesse an den subjektiven Wahrnehmungen von prekär Beschäftigten und Erwerbslosen gewachsen. Doch wie lässt sich das Verhältnis zwischen objektiven Strukturen prekärer Arbeit und deren subjektiver Wahrnehmung bestimmen? In unserem Beitrag diskutieren wir, ausgehend von einer mehrdimensionalen Heuristik von Prekarität im Lebenszusammenhang (Wimbauer/Motakef 2020), wie prekär Beschäftigte ihre prekäre Lebenslage unter Anerkennungsgesichtspunkten wahrnehmen. In dem Beitrag stehen Überlegungen im Zentrum, welche Rolle sozialstrukturelle Kategorien dabei einnehmen. Insbesondere fokussieren wir die Kategorie Geschlecht als eine zentrale Strukturkategorie und stellen prekäre (Sorge-)Arbeit ins Zentrum. Damit wollen wir explizit die verbreitete androzentrische Verkürzung von prekärer Arbeit auf prekäre Erwerbsarbeit überschreiten.
Wir stellen Befunde unserer anerkennungstheoretisch fundierten empirischen Studie – das DFG-Projekt „Ungleiche Anerkennung? Arbeit und Liebe im Lebenszusammenhang prekär Beschäftigter“ (WI2142/5-1) – vor (Wimbauer/Motakef 2020). In dieser Studie haben wir eine geschlechtersensible Perspektive auf Prekarität und Anerkennung (Honneth, Butler) im Lebenszusammenhang entfaltet und eine Heuristik mit acht Dimensionen von Prekarität entwickelt. Wir haben 24 prekär Beschäftigte – Paare und Menschen ohne Paarbeziehung – mittels Paar- und Einzelinterviews befragt:
- Wofür wünschen sie in der Erwerbsarbeit, in Paar- und Nahbeziehungen Anerkennung? Wofür erhalten sie tatsächlich Anerkennung? Wo zeigen sich Anerkennungsdefizite?
- Welche Bedeutung haben die verschiedenen Lebensbereiche und Anerkennungsdefizite für die Befragten, wie deuten sie ihre Situation?
- Können Anerkennungsdefizite in der Erwerbssphäre in anderen Lebensbereichen, durch Partner/in, Familie, Freund*innen oder anderes kompensiert werden – oder kumulieren Anerkennungsdefizite?
Im Ergebnis zeigen wir, dass bei allen prekär Beschäftigten unseres Samples, die Sorgearbeit leisten, diese unter prekären Bedingungen stattfindet, aber nicht alle Befragten diese auch als Nichtanerkennung wahrnehmen. Grundlegend für die Wahrnehmung von Prekarität, insbesondere von der Prekarität von Sorgearbeit und des Sorgearrangements, sind zunächst die gesellschaftlich vermittelten subjektiven Deutungen und Relevanzsetzungen. Blickt man weiter auf die Kategorie Geschlecht, so zeigt sich die Wahrnehmung der Prekarität von Sorge als vergeschlechtlicht. Offenbar werden an Frauen und Männer unterschiedliche Sorge- und Erwerbsarbeitserwartungen gestellt. Leisten Frauen Sorge, nehmen sie deren Prekarität wahr, zugleich normalisiert die Geschlechternorm aber offenbar ihre Prekaritätswahrnehmung. Wir diskutieren, dass es eine Chance darstellen kann, wenn immer mehr Männer Geschlechternormen überschreiten und im Sinne einer ‚caring masculinity‘ Sorgearbeit leisten. In unserem Sample wird von ihnen prekäre Sorge stärker wahrgenommen und skandalisiert, wobei insgesamt nur sehr wenige Männer unserer Studie nennenswert Sorgearbeit leisten. Daneben ist die Prekaritätswahrnehmung geschlechterübergreifend dann sehr ausgeprägt, wenn die Einlösung einer als legitim betrachteten Norm – Meritokratie in der Erwerbssphäre, aber auch zum Beispiel das Recht auf Familiengründung – verhindert wird.
Weiter stellt sich die Frage, wie normative Orientierungen von Individuen angeeignet werden: Auch wenn die Erwerbsnorm im aktivierenden Sozialstaat für alle gilt, sind nicht alle an ihr orientiert. Wer ist warum am Ernährermodell orientiert und wer will warum um jeden Preis ein Hausfrauen- oder Zuverdienerinnenmodell vermeiden, wie wir es in unserem Sample auffanden? Neben biographischen Erfahrungen sind zudem die individuelle Lebenshaltung und bestimmte psychische Dispositionen von Bedeutung, auch wenn dies Fragen aufwirft, die uns an die Grenzen der Soziologie bringen und womöglich in den Aufgabenbereich der Psychologie fallen. So ist am Ende die Frage nach den subjektiven Wahrnehmungen ein komplexes Wechselverhältnis aus gesellschaftlichen Rahmen der Anerkennbarkeit (Butler), institutionellen Anerkennungsordnungen, normativen Orientierungen, vermittelt durch sozialstrukturelle Positionierungen und durch subjektive biographische Erfahrungen im Elternhaus, der Familie, der Erwerbssphäre und durch psychosoziale Dispositionen.
It’s the tructure, stupid? – ja und nein. Die Struktur ist mächtig, aber sie ist nicht übermächtig. Sie begrenzt und ermöglicht Deutungen, und einer der wichtigsten Zwischenschritte dabei sind – neben Ressourcen – die Normen, wie zum Beispiel Geschlechter- und Arbeitsnormen. Aber auch diese können, wie nicht nur unsere Empirie zeigt, womöglich an der einen oder anderen Stelle überschritten werden. Die Soziologie kann erforschen, wann, wie und warum dies möglich ist. Noch besser kann sie dies erforschen, wenn sie dabei – so unser Fazit – auf interdisziplinäre Hilfe zurückgreift.
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