Die „Woke“ als Avantgardistin

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in identitätspolitischer Literatur

Autor/innen

  • Marlene Müller-Brandeck Ludwig-Maximilians-Universität München

Schlagworte:

Literatursoziologie, Mediensoziologie, Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Identitätspolitik, Soziale Ungleichheit

Abstract

Es gibt wohl kaum ein Genre, welches sich momentan größerer Beliebtheit erfreut als das breite Spektrum von Identitäts(politischer)literatur. Sie verhandelt identitätspolitische Stoffe (wie Rassismus, Sexismus oder Klassismus) changierend zwischen Sachbuch, Ratgeber und (Auto)Fiktion. Identitätspolitische Literatur enthält die Opposition der „woken“, der erweckten Schreibenden, die in ihren Büchern gesellschaftliche Diskriminierungsstrukturen anprangern. Ihnen gegenüber stehen die Lesenden, die diesen Erkenntnisprozess noch nicht durchlaufen haben und deswegen die Realität noch verkennen. Es wird erkennbar, dass diese Polarisierung nicht bloß von einer inhaltlichen, sondern vor allem von einer zeitlichen Diskrepanz geprägt ist, in der die Autor:innen eine Entwicklung bereits abgeschlossen haben, die den Lesenden noch bevor steht. Diese zeitliche Diskrepanz trägt Motive der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in sich, in dem sie Superiorität temporalisiert, ein lineares Fortschreiten suggeriert und den weniger Entwickelten zugesteht, „noch“ „in einer anderen Zeit zu leben“ (Nowotny 1993, S. 35). Diese Diagnose bricht mit zwei wesentlichen Annahmen, die mit der Denkfigur der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Verbindung stehen: Die Denkfigur wurde als Ausdruck eurozentristischen Denkens kritisiert, weil sie die Superiorität Europas gegenüber dem Rest der Welt behauptete und mit dem paternalistischen Hinweis auf deren Entwicklungsfähigkeit versah. In identitätspolitischer Literatur funktioniert die Figur in umgekehrter Richtung: Es sind die Kritiker:innen des Eurozentrismus, die den Weg in eine neue Zukunft beschritten haben, während deren Anhänger:innen zurückbleiben. Außerdem wendet sich diese Diagnose gegen die postmoderne „neue Unübersichtlichkeit“. Denn die identitätspolitische Kritik kann als eine Abwendung von der Postmoderne verstanden werden: Die „Woke“, die Erweckte, ist eine post-postmoderne Avantgardistin, die als eine Nachfolgerin des „Pioniers, des Schrittmachers, des Innovators“ (Schmieder 2017, S. 332) gelesen werden kann, gegen den sie sich zwar inhaltlich richtet, obwohl sie, genau wie er, eine Zeitenwende einläutet und zum Fortschritt aufruft.

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Material

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Veröffentlicht

29.09.2023

Ausgabe

Rubrik

Sektion Medien- und Kommunikationssoziologie und Sektion Wissenschafts- und Technikforschung: Polarisierte Zukünfte? Zur Konstruktion, Kommunikation und Konstitution polarisierter und polarisierender Zukunftserwartungen