Editorial

Autor/innen

  • Sina Farzin

Abstract

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
bewegt man sich dieser Tage lesenden Auges durch die Welt, kommt man an Verlusterzählungen unterschiedlichster Couleur kaum vorbei. Ständig scheint etwas vom Verschwinden bedroht, etwa der kultivierte Austausch von Argumenten durch rabaukiges Social Media Gerangel, oder bereits in Auflösung begriffen, etwa die Größe der eigenen Nation, die es wiederzubeleben gilt. Man könnte soziologisch einiges sagen zu diesem sound der Gegenwart, der zwischen verklärender Wehmut und beleidigter Wehleidigkeit ob des empfundenen eigenen Bedeutungsverlustes schwankt. Das scheint aber weniger naheliegend als einfach einzustimmen. In regelmäßiger Konjunktur findet sich im Rauschen der öffentlichen Klage eine ganz auf die Soziologie zugeschnittene Variation des genannten Musters: Man diagnostiziert den eigenen Bedeutungsverfall im fortgeschrittenen Stadium und betrauert den Verlust des Status als »Leitwissenschaft«, den die Soziologie – so wird zumindest den Nachgeborenen glaubhaft versichert – irgendwann zwischen ca. 1960 und ca. 1980 unangefochten behaupten konnte. Dabei scheint der Schmerz über die verlorene goldene Zeit der Disziplin inzwischen fast länger anzuhalten als diese selbst. Während meines Grundstudiums Ende der 1990er Jahre entdeckte ich einen kleinen Sammelband unter dem Titel »Wozu heute noch Soziologie?«, in dem eine schon damals einige Jahre alte Debatte aus der ZEIT dokumentiert wurde. In den Beiträgen namhafter Soziologen und immerhin auch einer Soziologin wird der befürchtete »Zerfall einer Wissenschaft« von allen erdenklichen Seiten beleuchtet und kommentiert. Und damals wie heute fällt an dieser Art Diskussion der merkwürdige Umstand auf, dass ausgerechnet in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung der eigenen Wissensangebote die geschilderten Befindlichkeiten kaum empirisch abgesichert werden. Vielleicht hätte sich eine entspanntere Tonlage eingestellt, wenn Untersuchungen Aufschluss über die Rezeption soziologischen Wissens gegeben hätten. Denn vermutlich galt auch am Ende des 20. Jahrhunderts bereits, was Jasper Korte in seiner Analyse der wichtigsten überregionalen deutschsprachigen Zeitungen für den Beginn des 21. Jahrhunderts in diesem Heft zeigt: dass die Soziologie sowie ihre Forschungsergebnisse durchaus wahrgenommen, dass in den Medien darüber berichtet wird und dass ihre Vertreter und Vertreterinnen auch öffentlich gefragte Stimmen sind. Über die Mühen und Möglichkeiten einer solchen Selbstaufklärung mit eigenen Mitteln diskutieren in diesem Heft zudem die Mitglieder eines DFG Netzwerks zur Soziologie soziologischen Wissens.
Die einzige Frau übrigens, die in dem erwähnten Sammelband zu Wort kam, ist die großartige Renate Mayntz, die Ende April ihren 90. Geburtstag feierte und der Uwe Schimank in diesem Heft mit einem Beitrag gratuliert. Sie stellte schon damals mit klarem Blick fest, dass man einer Soziologie, die sich leitwissenschaftlich beseelt auf die öffentlichkeitswirksame Verkündigung von Heilswissen spezialisiert, besser keine Träne nachweinen sollte.
Herzlich, Ihre
Sina Farzin

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Veröffentlicht

2019-07-01

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