Editorial

Autor/innen

  • Dirk Baecker

Abstract

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wie hält es die Soziologie mit dem Krieg? Als Berichterstatterin ist sie zu langsam; die Massenmedien inklusive der sogenannten Sozialen Medien sind mit Bild, Text, Interview und Meinung schneller. Was ihr bleibt, ist die Distanz. Wie wird sie genutzt? Im zweiten Weltkrieg und danach verdankte die Soziologie ihren Ausbau den Aufgaben der Feindbeobachtung und der Auswertung von Stimmungsbildern der Bevölkerung. Aber darüber hinaus? Markus Holzinger legt in diesem Heft dar, dass die Soziologie im Zweifel eher eine Wissenschaft des Friedens als des Krieges ist, obwohl der Krieg so menschlich ist wie der Frieden und Interaktionsmuster der Gewalt genauso beobachtet werden können wie solche des zivilisierten Verhaltens (wenn das ein brauchbarer Gegenbegriff ist).

Tatsächlich gibt es zahlreiche Perspektiven, unter denen die Soziologie den Krieg betrachtet. Sie forscht zur Geschichte des Krieges, zur Rolle des Militärs in der Gesellschaft, zu Strategien und Taktiken bewaffneter Konflikte, zu Dynamiken der Eskalation und Deeskalation. Auch List und Täuschung, Information und Desinformation, Ideologie und Rechtfertigung sind mögliche Themen, die niemanden daran hindern, zugleich über das Militär als Arbeitgeber, Aufstiegschance und Ausbilder zu forschen. Jahrhundertelang griff man auf Veteranen zurück, wenn es darum ging, Krankenhäuser zu leiten. Wichtige Impulse der Managementphilosophie kommen nicht erst seit dem Harzburger Modell der 1950er Jahre und der im Pentagon entwickelten Beschreibung einer VUCA-Welt, einer von Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität gezeichneten Welt, aus dem Militär, ganz zu schweigen von der immensen Rolle militärischer Forschung für die technologische Entwicklung auf jedem nur denkbaren Gebiet.
Manche Kriege werden geführt, um Waffen zu testen und möglichen Kunden vorzuführen. Andere dienen der Ablenkung von innenpolitischen Problemen, wieder andere der Unterstützung brachliegender Industrien oder auch der Mobilisierung innovativer Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Und manchen gelingt es, diese Leistungen miteinander zu kombinieren; dann wird das Militär zum Integral einer Gesellschaft. Die Geschichte wird die Geschichte von Sieg und Niederlage, die Zukunft zur Zukunft einer wachsamen Verteidigungsbereitschaft.
Die aktuellen Kriege sind Umweltkatastrophen eines gewaltigen Ausmaßes. Menschen sterben, Städte und Länder werden verwüstet, Handelsbeziehungen unterbrochen, Industrie und Landwirtschaft lahmgelegt, Familien auseinandergerissen, Hoffnungen begraben und Seelen zerstört. Generationen werden zum Opfer traumatischer Erfahrungen.
Die Soziologie protokolliert. Sie erprobt ihre Begriffe, Theorien und Methoden auch an diesem Phänomen. Das ist nicht kriegsentscheidend. Aber es bringt die Gesellschaft im Krieg zum Ausdruck. Es verweigert die Isolation des Phänomens, seine Reduktion auf den Anachronismus eines barbarischen Akts, um den es sich gleichwohl handelt, wenn irgendein Maßstab zivilisierten Verhaltens seine Geltung behalten soll. Doch dieser Akt ist Kommunikation wie jeder andere auch. Er informiert, er teilt etwas mit, er wird verstanden, erreicht vielleicht sogar Verständigung. Er entscheidet darüber, ob und wie der Krieg fortzusetzen oder abzubrechen ist.
Erst hier findet die Soziologie zu einer Rolle, die nicht auch von der Geschichtswissenschaft, der Politologie, den Wirtschaftswissenschaften oder der Psychologie eingenommen werden könnte. Indem sie die Gesellschaft im Krieg zum Ausdruck bringt, verweist sie auf eine Kommunikation, die offen ist – offen für den Krieg und den Frieden, offen für den Sieg und die Niederlage. Solange kommuniziert wird, ist nichts entschieden. Solange gehandelt und erlebt wird, ist jede Wendung möglich. Nichts ist eindeutiger als die Gewalt, wenn nicht sogar gilt: Nur die Gewalt ist eindeutig, und dennoch kann auch sie nur einen Moment besetzen. Wer noch lebt, kann so oder anders weitermachen.
Deswegen ist das die Rolle der Soziologie im Krieg: Sie hält den Lauf der Dinge so lange wie möglich für unentschieden. Sie ruft keinen Sieger, keinen Verlierer aus. Sie fordert keine Kapitulation. Sie stärkt, wenn sie kann, die Unentschiedenheit gegen die Entschiedenheit. Sie ist gegen den Krieg, aber sie nimmt ihn zur Kenntnis. Sie ist für und gegen Waffenlieferungen – und versteht jede Politik, die am liebsten beide Optionen zugleich bedient.

Mit herzlichen Grüßen
Dirk Baecker

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Veröffentlicht

2022-10-01

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