Editorial
Schlagworte:
Ukraine, Russland, Krieg, EntscheidungsprozesseAbstract
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
angenommen, man wollte das Zögern des Bundeskanzlers Olaf Scholz vor der Steigerung deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine soziologisch erklären: Welche Modelle stehen dafür zur Verfügung? Seine eigene Erklärung ist bekanntlich eine doppelte: Zum einen gelte es, jeden deutschen Alleingang zu vermeiden und sich für jede neue Entscheidung mit den NATO-Partnern, allen voran den USA, abzustimmen; und zum anderen müsse den Befürchtungen in der Bevölkerung Rechnung getragen werden, mit jeder Ausweitung von Waffenlieferungen enger in den Krieg hineingezogen zu werden. Militärische Überlegungen dürfen nur insoweit eine Rolle spielen, als sie einem völkerrechtswidrig überfallenen Verbündeten helfen, ohne Deutschland und die NATO zur Kriegspartei zu machen. Die Widersprüchlichkeit dieser Position liegt auf der Hand, darf jedoch die Handlungsfähigkeit nicht blockieren.
Ich halte mich an mathematische Modelle. Folgt man der Unterscheidung Anatol Rapoports (»Mathematische Methoden in den Sozialwissenschaften«, 1980), stehen »klassische«, probabilistische und strukturelle Modelle zur Verfügung. Die »klassischen« Modelle beruhen auf Kalkülen der Differential- und Integralrechnung und sind in der Lage, Prozesse sozialer Diffusion zu beschreiben. Danach würde man berechnen, welche Zeit etwa die Entscheidung bestimmter Länder, an die Ukraine Kampfpanzer zu liefern, braucht, um bei den NATO-Partnern anzukommen und ähnliche Entscheidungen auszulösen. Man würde nach den Umständen, nicht zuletzt Netzwerkeffekten, fragen, die diesen Prozess zusätzlich konditionieren, also entweder beschleunigen oder verzögern können. Dieses Modell ist an ein auslösendes Ereignis gebunden, könnte dann jedoch eine je nach politischer Orientierung, bürokratischen Hemmnissen und industriellen Kapazitäten unterschiedliche Wahrscheinlichkeit von Anschlussentscheidungen in Rechnung stellen. Offen bleibt die Frage, ob es historische oder aktuelle Vergleichsfälle gibt, die der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten zugrunde gelegt werden könnten.
Probabilistische Modelle werden vor allem in der normativen Entscheidungstheorie herangezogen. Sie bewerten Optionen anhand von Präferenzen, Eintrittswahrscheinlichkeiten und Nebenfolgen und können im Rahmen spieltheoretischer Überlegungen zusätzlich kooperative und gegnerische Strategien berücksichtigen. Im vorliegenden Fall kommt es hauptsächlich darauf an, die NATO-Partner als einen einheitlichen Spieler darzustellen, dem die strategischen Züge sowohl Russlands (»rote Linien«) als auch der Ukraine (»keine Übergriffe auf russisches Terrain«) gegenüberstehen. In diesem Modell ist nichts wichtiger, als anhand von kommunizierten und anderen Signalen die Bereitschaft und Fähigkeit aller Beteiligten einzuschätzen, ihre jeweiligen Risiken zu berücksichtigen, sich selbst entsprechend zu binden und so die Strategien von Freund und Feind zu validieren.
Die strukturellen Modelle der mathematischen Soziologie arbeiten mit Relationen des Typs »p impliziert q« oder auch »pRq«. In einer engeren Auslegung beschreiben sie Ereignisse in einer einseitigen oder auch wechselseitigen funktionalen Abhängigkeit voneinander. Da es hier um die Berechnung »logischer« Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Ereignissen geht, sind diese Modelle darauf angewiesen, wissenssoziologisch zu beschreiben, für welche Akteure welche Vorkommnisse als »Ereignisse« zählen, auf die so oder anders zu reagieren oder denen so oder anders zuvorzukommen wäre. Mithilfe des in der Systemtheorie rezipierten Formkalküls von George Spencer-Brown (»Laws of Form«, 1969) kann überdies die bisherige Beschränkung auf binäre Relationen zugunsten mehrstelliger Interdependenzen unterschiedlichen Gewichts aufgehoben werden. So lässt sich zum einen überprüfen, welches Wissen man vom Wissen der Gegner und Partner hat, und zum anderen reflektieren, welche Ereignisse dazu beitragen können, die Gewichtungen innerhalb der berücksichtigten Variablen zu verschieben.
Mithilfe dieser und anderer Modelle, so mein Eindruck, kann man die politischen Entscheidungsprozesse begleiten und möglicherweise dazu beitragen, implizites Wissen explizit werden zu lassen und die eine oder andere Annahme zu korrigieren. Das Zögern des Kanzlers erscheint vor diesem Hintergrund als ein bild- und raumgebendes Verfahren, in dem die Kalküle der Beteiligten Gestalt annehmen und einschließlich der Würdigung möglicher Überraschungen wechselseitige Verlässlichkeit gewinnen.
Mit herzlichen Grüßen
Dirk Baecker