Editorial

Autor/innen

  • Dirk Baecker

Schlagworte:

Gruppenforschung, empirische Sozialforschung, Gruppen

Abstract

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ein Gespenst geht um in der Soziologie, das Gespenst einer relationalen Sozio­logie. Auf dem Soziologiekongress in Bielefeld sah man es über den Nop­pen­boden schleichen. Der Bücherstand von Suhrkamp war der letzte, der am Freitagnachmittag abgebaut wurde, aber auch dort wurde man seiner nicht habhaft. Was hat es mit diesem Gespenst auf sich? Viele halten es für eine Neuerfindung der Soziologie mit den Mitteln der Soziologie, eine tauto­logisch-pleonastische Bekräftigung dessen, was die Soziologie immer schon war. Kann man sich, um nur einen Gründungsakt zu nennen, Auguste Com­tes Unterscheidung zwischen Statik und Dynamik, die Adorno nicht moch­te, ohne ein Grundverständnis von Relationen vorstellen? Immerhin ging es bei Comte um den Hinweis, dass jeder soziale Sachverhalt zugleich auf zwei Achsen zu denken sei, einmal als Differenz zu gegenwärtig mitlaufenden anderen Sachverhalten und einmal als Differenz zu früheren und späteren Versionen desselben Sachverhalts. Die Statik war eine der Ausdifferenzierung, die Dynamik eine der Entwicklung (oder der Stagnation). Beide sind ohne Relationen zum Anderen, Früheren und Späteren nicht zu denken. Bemer­kens­wert ist allenfalls, dass neben der Sachdimension und der Zeitdimension aller sozialen Sachverhalte die Sozialdimension keine explizite Erwähnung fin­det. Wurde die Soziologie ohne eine Berücksichtigung sozialer Relationen er­funden? Geht es darum?

Wie man hört, will die relationale Soziologie den Unterschied zwischen Akteur und Struktur unterlaufen, also aus jener Sackgasse heraushelfen, in die sich eine Soziologie manövriert hat, die nicht weiß, wie Intentionen und Motive auf der einen Seite zu Verhältnissen auf der anderen Seite in eine Be­­ziehung zu setzen sind. Man denke an Colemans Badewanne. Die relatio­nale Soziologie wendet ein, dass es sich bei Relationen um Phänomene handelt, die weder das eine, Akteur, noch das andere, Struktur, sind. Schlim­mer noch, jetzt wird es gespenstisch, sie sind beides zugleich. Relationen be­sitzen eine eigene agency im Verhältnis zu Akteuren und sind damit der Stoff, aus dem die Verhältnisse bestehen, als jederzeit »ausge­han­delte« und neu »auszuhandelnde« Verhältnisse. Verhandlung klingt gut.

Spooky. Kann man nicht einen Schritt weitergehen und unter Berufung auf Simmels Begriff der Wechselwirkung jeden soziologischen Grundbegriff als Relation rekonstruieren? Ein Akteur ist die Relation einer Intention oder eines Motivs auf eine Situation? Eine Struktur ist die Relation von min­des­tens zwei Determinanten einer Situation zueinander? Eine Rolle ist die Re­la­tion von Verhaltenserwartung und personaler Darstellung? Eine Norm ist die Relation von Verhaltenserwartung, Wahrscheinlichkeit der Ab­wei­chung und Sanktionspotential? Und so weiter. Ein Feld ist eine Relation zwi­schen einer Kraft und weiteren Kräften? Ein System ist eine Relation zwi­schen Ope­­ration und Rekursion? Ein Netzwerk ist eine Relation zwi­schen Po­si­tionen und Äquivalenzen? Das Gespenst kommt richtig in Fahrt.

Was hätte man von solchen Reformulierungen? Sicherlich mehr be­griff­liche Beweglichkeit. Aber mir scheint außerdem, dass man mit diesem Ver­ständ­nis von Relation der Methodendebatte in der Soziologie zuarbeiten könnte, die wir mit dem vorliegenden Heft und einem Aufruf von Andreas Diekmann wieder aufnehmen. Wenn es stimmt, was Stephan Moebius und Oliver Römer in einem Beitrag über die »wilden siebziger Jahre« und ihre »gegnerischen Soziologien« in der Zeitschrift für Soziologie jüngst beschrieben haben, leidet die Soziologie weniger unter einem Theoriedefizit als vielmehr an einem Methodendefizit. Theorien großen Stils und mittlerer Reichweite gibt’s genug, auch wenn sie nicht facheinheitlich zu haben sind. Aber worauf es ankäme, wäre die Entwicklung von Methoden, die auf nichts anderes achten als auf Relationen, Beziehungen; diese jedoch quantitativ und qua­li­ta­tiv zu differenzieren wissen. Häufigkeiten und Frequenzen, Typen und Funktionen, Entstehung und Zerfall, wäre damit nicht für jede Art von So­zio­logie ein Boden gefunden, auf dem sie bauen kann?

Statistische und hermeneutische Methoden hätten in Relationen ihren Konvergenzpunkt. Was stellt womit auf welche Art eine Beziehung her? Wo­raus, aus welchem Material, besteht diese Beziehung? Welche Rollen spie­len für wen das Reale, das Symbolische und das Imaginäre? Unter wel­chen Bedingungen hält diese Beziehung wie lange beziehungsweise kann wie und von wem wieder aufgelöst werden?

Ich gebe zu, dass meine Eindrücke vom Kongress in Bielefeld an diesen Fra­gen nicht ganz unschuldig sind. Es gibt sie, die soziologische Fra­ge­stel­lung, aber kaum jemand ist streng genug, sich an sie zu halten.

Mit herzlichen Grüßen

Dirk Baecker

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Veröffentlicht

2024-03-06

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