Benötigt qualitative Forschung eine schriftliche Absicherung der Ethik?

Autor/innen

  • Mathias Wagner

Schlagworte:

Interview, Anonymisierung, Qualitative Sozialforschung

Abstract

In der qualitativen Sozialforschung wird heute die schriftliche Zustimmung der In­ter­view­part­nerinnen und -partner zu Interviews gefordert. Bis vor wenigen Jahren reich­te dagegen noch die Selbstverpflichtung der Wissenschaftlerinnen und Wissen­schaft­ler zur Ano­­­nymisierung der Daten und zum Persönlichkeitsschutz der Akteure aus. Es wird die Frage aufgeworfen, ob mit der Veränderung zur schriftlichen Form tendenziell be­­stimmte soziale Gruppen die Teilnahme an Forschungen aus Miss­trauen ver­wei­gern. Trifft das zu, so wird der Zugang zu vulnerablen sozialen Schichten oder zu Per­sonen mit Misstrauen gegenüber der etablierten Gesellschaft un­möglich. Zudem wider­spricht die schriftliche Zustimmung zu einem Interview der Alltagslogik von Ver­trauen in der Kommunikation. Gerade in ethnografischen For­schungen ge­wäh­ren Akteure aufgrund von nicht formalen Kriterien Einblick in ihren Alltag.

 

In qualitative social research today, the written consent of interviewees is required for interviews. Until a few years ago, however, the self-commitment of the resear­chers to anonymize the data and to protect the privacy of the participants was suf­ficient. The question is raised as to whether the change to the written form means that certain social groups tend to refuse to participate in research out of mistrust. If this is the case, access to vulnerable social groups or people with a mistrust of estab­lished society becomes impossible. In addition, written consent to an interview con­tradicts the everyday logic of trust in communication. In ethnographic research in par­ticular, actors provide insight into their everyday lives on the basis of non-formal cri­teria.

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Veröffentlicht

2025-07-02

Ausgabe

Rubrik

Forschen, Lehren, Lernen