Benötigt qualitative Forschung eine schriftliche Absicherung der Ethik?
Schlagworte:
Interview, Anonymisierung, Qualitative SozialforschungAbstract
In der qualitativen Sozialforschung wird heute die schriftliche Zustimmung der Interviewpartnerinnen und -partner zu Interviews gefordert. Bis vor wenigen Jahren reichte dagegen noch die Selbstverpflichtung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Anonymisierung der Daten und zum Persönlichkeitsschutz der Akteure aus. Es wird die Frage aufgeworfen, ob mit der Veränderung zur schriftlichen Form tendenziell bestimmte soziale Gruppen die Teilnahme an Forschungen aus Misstrauen verweigern. Trifft das zu, so wird der Zugang zu vulnerablen sozialen Schichten oder zu Personen mit Misstrauen gegenüber der etablierten Gesellschaft unmöglich. Zudem widerspricht die schriftliche Zustimmung zu einem Interview der Alltagslogik von Vertrauen in der Kommunikation. Gerade in ethnografischen Forschungen gewähren Akteure aufgrund von nicht formalen Kriterien Einblick in ihren Alltag.
In qualitative social research today, the written consent of interviewees is required for interviews. Until a few years ago, however, the self-commitment of the researchers to anonymize the data and to protect the privacy of the participants was sufficient. The question is raised as to whether the change to the written form means that certain social groups tend to refuse to participate in research out of mistrust. If this is the case, access to vulnerable social groups or people with a mistrust of established society becomes impossible. In addition, written consent to an interview contradicts the everyday logic of trust in communication. In ethnographic research in particular, actors provide insight into their everyday lives on the basis of non-formal criteria.
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