Editorial
Abstract
Widerstand,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
also ich halte das für eine subtile Form von Widerstand. Es geht um die Zeit nach dem Abitur. Die jungen Leute haben sich durch die letzten beiden Schuljahre geschleppt, haben sich über Prüfungen gerettet, Studien- und Berufsberatungen über sich ergehen lassen und Schnuppertage an der Uni mitgemacht.
Und was tun sie jetzt? Sie machen ein soziales Jahr. Das Studium wird aufgeschoben. Selbstverständlich verstehen sie das Sozialjahr als Gelegenheit, etwas Gutes zu tun. Soziologinnen und Soziologen ist die Vermengung von sozial und gut sehr geläufig. Einige beteiligen sich selbst daran. Aber gerade in diesem Fall verdeckt der Sprachgebrauch Sinn. Denn sozial kann in diesem Zusammenhang erst mal nichts anderes bedeuten, als: auf Gesellschaft bezogen; und das Sozialjahr wäre folglich die Gelegenheit, Gesellschaft kennen zu lernen, also schlicht: Erfahrungen zu sammeln. Selbstverständlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man das mit Versuchen verbindet, anderen nützlich zu sein. Und wahrscheinlich bieten gerade Versuche, Gutes zu tun, gute Gelegenheiten, Erfahrungen zu sammeln. Ein paar Beispiele:
Sabine ist ein Jahr lang in Argentinien. Sie arbeitet in einem Altersheim. Für die Grundversorgung ist sie nicht zuständig. Also kein Ankleiden, Kämmen, Wickeln. Aber für all das, wofür das Stammpersonal keine Zeit hat. Musik hören, sich unterhalten, Lebensgeschichten zuhören – wobei dies eine Erfahrung ganz eigener Art ist, vor allem, wenn diese Geschichten auf Deutsch erzählt werden.
Daniel ist in Mozambique und unterstützt den Trainer einer regional wichtigen Fußballmannschaft. Daneben hat er ein Unterstützungsprojekt entwickelt: Man kann bei ihm Hosen und Taschen aus bunten afrikanischen Stoffen bestellen. Die einheimischen Frauen, von denen die Sachen genäht werden, erhalten den gesamten Erlös.
Anna arbeitet an einer Grundschule in Bali als Aushilfsenglischlehrerin. Außerdem betreibt sie einen Blog, in dem sie von lustigen und seltsamen Erlebnissen in dem schönen Land berichtet, und Fotos einstellt, auf denen man die Freude kleiner Schülerinnen sieht, denen sie neue – schicke und vor allem passende – Brillen verschafft hat. Um die Brillen zu finanzieren, organisiert sie Mini-Crowdfunding unter den Freunden daheim.
Karl ist in Leipzig geblieben. Er hat zuerst in einem Partyservice gearbeitet und jobbt jetzt in einem Schnellrestaurant. Einen Teil seiner Abende verbringt er mit e-mailen, bei facebook oder skypen quer durch die Welt. So arbeitet er daran, dass das Netzwerk zusammenhält, das alle miteinander als Rückhalt haben. Das war zwar nicht so geplant, hat sich aber so ergeben.
Und wieso ist das Widerstand? Gleich aus mehreren Gründen. Erstens handelt es sich um Strategien, aus dem Irrsinn einer täglichen Routine, die zwölf bis dreizehn Jahre lang, fünf Tage in der Woche, morgens um 7 Uhr begonnen hatte, auszubrechen und nicht gleich in den nächsten täglichen Trott zu verfallen. Zweitens sieht man daran, dass ein Leben, das an einem schmalen egoistischen Nutzenkalkül orientiert ist, wenig Anziehungskraft für diese jungen Leute hat. Drittens handelt es sich um den gelungenen Versuch, das Temporegime der gegenwärtigen Hochschulpolitik auszubremsen. Erinnern wir uns einen Moment lang daran, dass die Bolognareformen unter anderem dazu gedacht waren, die Studienzeiten zu verkürzen. Was passiert tatsächlich? Das Studium wird später begonnen und dauert länger. Von einem Berufseinstieg mit 25 Jahren keine Spur. Und schließlich wird auf eigene Faust jene Internationalität praktiziert, an deren Förderung die Bolognareform so kläglich scheitert. Das ist Widerstand.
Ihr
Georg Vobruba