Routine – Kontingenz – Reflexivität: Warum Praxistheorien nicht ohne ein Konzept der Subjektivierung auskommen
Schlagworte:
Praxistheorie, Subjektivierung, Selbst-Bildung, Reflexivität, Kontingenz, Lernen, Dispositionen, Befähigung, AnerkennungAbstract
Die Engführung von Praktiken auf die routinehafte Reproduktion des Sozialen ist, so unsere Ausgangsthese, das Konstrukt einer „Theaterperspektive“ (Bourdieu) auf soziales Geschehen, mit dem der Anspruch der Praxistheorien, eine Soziologie jenseits von Strukturalismus und Handlungstheorie zu formulieren, nicht eingelöst wird. Denn „Struktur“ und „Handeln“ sind nicht gleichzeitig und in gleicher Weise zu beobachten: Strukturen können ausschließlich im Nachhinein identifiziert werden. Gegenwärtiges Geschehen gehört hingegen zu einer kontingenten, im Werden begriffenen Wirklichkeit, in der Ereignisse und Erfahrungen auftauchen, deren Möglichkeit nicht in den rekonstruierten Strukturen enthalten war und die sich deshalb auch nicht im Rekurs auf diese Muster erklären lässt. Entsprechend koexistieren in der praxistheoretischen Debatte zwei analytisch zu unterscheidende Sichtweisen: Während Akteure in der einen Perspektive auf bloße Vollzugsorgane sie „rekrutierender“ Praktiken reduziert werden, denen lediglich die Funktion zukommt, Praktiken routinehaft am Laufen zu halten, neigt die andere Perspektive dazu, ein präpraktisches Subjekt vorauszusetzen, um die Vollzugsoffenheit der Praxis überhaupt denken zu können. Zur Überwindung dieser Polarisierung ist es nötig, die Ausformung sozialer Ordnungen und ihrer „Akteure“ als einen ko-konstitutiven Verweisungszusammenhang zu begreifen.
Da es sich bei Praxiskonzeptionen um Beobachtungskonstrukte handelt, bleiben Praxisverständnis und Beobachterperspektive wechselseitig aufeinander verwiesen. Im Anschluss daran schlagen wir eine Methode systematischer Perspektivwechsel vor, um sowohl die Strukturierungen des Handelns und der „Einstellungen“ der Agierenden als auch die kontingente (interaktive) Entfaltung von Praxis durch sich darin selbst bildende „Handlungssubjekte“ in den Blick zu bringen. So sollen Konzepte praktischer Teilnahmebefähigung ausgelotet werden, um zu zeigen, dass „Akteure“ erst in ihrer Teilnahme an Praktiken zu Trägern von Fähigkeiten werden und sich zu solchen machen. Es wird deutlich, dass der Status als kompetentes Teilnehmersubjekt von Akten der Anerkennung abhängig ist, in die je spezifische normative Erwartungen eingefaltet sind. Um ihre von Spannungen und Widersprüchen gekennzeichnete Ambivalenz zwischen Aktivität und Passivität, Anpassung und Eigensinn, Routine und Reflexivität in den Blick zu bekommen, beobachten wir diese Vorgänge als Prozesse der Subjektivierung und Selbst-Bildung.Literaturhinweise
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