Editorial

Autor/innen

  • Dirk Baecker

Schlagworte:

Metakrise, Sichtbarkeit der Soziologie

Abstract

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

auf der einen Seite eine »Metakrise« (Annalena Baerbock), eine Krise aller Krisen, auf der anderen Seite eine Soziologie, die über »polarisierte Welten« streitet. Entsprechen sich die beiden Diagnosen? Sind die Krisen in eine Krise geraten, die herkömmliche Formen ihrer Bewältigung außer Kraft setzt? Verhindert die Polarisierung jegliches Verfahren der Verständigung auf aussichtsreiche Lösungen?

Sicher scheint mir, dass die Soziologie mit ihren herkömmlichen Theo­rien und Methoden nur wenig zu einer Gesellschaft beitragen kann, die Krieg, Hitze, Dürre, Pandemie und kommunikativen Blockaden zwar nicht wehr­los ausgeliefert (pragmatische Lösungsversuche ebenso wie pragma­ti­sche Lösungsblockaden gibt es in Hülle und Fülle), aber doch von der Typik der Probleme konzeptionell überfordert ist. Sowohl die empirische Sozial­for­schung als auch die intellektuellen Entwürfe der soziologischen Theorie beschränken sich darauf, bereits bekannte Befunde zu bestätigen. Es man­gelt dieser Gesellschaft nicht an Selbsterkenntnis und Selbstbeschreibung, auch wenn unklar ist, was daraus folgt.

Ein Editorial ist kein Wunschkonzert, doch ich komme nicht umhin, mir eine institutionelle, ja organisatorische Antwort der Soziologie auf die Meta­krise vorzustellen: eine Soziologie in neuen Formaten der Lehre und For­schung. Ich bin erstens überzeugt, dass die Soziologie ihre internationalen Kon­takte auf allen Ebenen und für alle denkbaren Themen, von der Demo­kra­tie- und Bürokratieforschung über die Industrie- und Arbeitssoziologie bis zur Kunst-, Religions- und Sportsoziologie ausbauen muss. Ich bin eben­falls überzeugt, dass wir den Stellenwert der Soziologie hierzulande nur stär­ken können, wenn wir durch internationale Kooperationen mit Kolleg:innen weltweit – nicht nur im »Westen«, sondern im globalen Süden, Osten und Nor­den – in den Austausch gehen. Auch wenn hier schon viel passiert, kann die Sichtbarkeit weniger in der Forschung als vielmehr in der Gesellschaft durchaus noch verbessert werden.

Die mangelnde Sichtbarkeit ist die Achillesferse der Soziologie. Wir brau­­­chen deswegen zweitens auf der Suche nach neuen Formaten eine Kam­pag­ne zur Neugestaltung unserer Fakultäten und Departments. Ich stelle mir vor, zwei, wenn nicht drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Nach­wuchs­­förderung, Studierendenmarketing und neue Themen. Diese eine Klap­­pe ist der massive Ausbau der Promotionsförderung. Doktorand:innen wer­den dafür bezahlt, die eine Hälfte ihrer Zeit an ihrer Dissertation zu arbeiten und die andere Hälfte als Tutor:innen studentische Arbeitsgruppen bei ihrer Auseinandersetzung mit praktischen Themen zu begleiten. Der Schwerpunkt der studentischen Lehre liegt auf Praxisprojekten mit Praxis­part­nern, in allen Bereichen der Gesellschaft. Die Universität ist der Ort, an dem nach Alternativen für jede nur denkbare gesellschaftliche Praxis gesucht wird – und sei es nur, um über diese Praxis streiten zu können und in dieser Pra­xis mit kritischen Impulsen wirksam werden zu können. Die Universität wird für Studierende attraktiv, weil sie hier nicht nur mit einem Fach, son­dern mit der Gesellschaft konfrontiert werden. Und sie wird für Praxis­part­ner attraktiv, weil sie hier zu einer Reflexion eingeladen werden, für die in der alltäglichen Arbeit die Zeit fehlt.

Der professorale Lehrkörper beobachtet – und reagiert seinerseits mit The­men, Ideen, Theorien und Methoden. Der Nachwuchs beendet mit der Pro­motion seine Ausbildung und bewirbt sich anschließend um unbefristete Lec­turer- und Fellow-Stellen (interessant, dass es für diese Form der An­stel­lung noch nicht einmal ein deutsches Wort zu geben scheint), die aus­kömm­lich genug die weitere Forschung, eventuelle Familiengründung und den Wett­bewerb um besser bezahlte Professorenstellen ermöglichen.

Gegenwärtig übt sich die Soziologie in einem gepflegten Hege­lia­nis­mus: Die Wirklichkeit ist entweder vernünftig oder unvernünftig, am lieb­sten je­doch beides zugleich. Es käme jedoch darauf an, ein Alter­na­ti­ven­wissen zu er­­arbeiten, das sowohl positiv als auch kritisch, vor allem jedoch praktisch ist. Die Sichtbarkeit der Soziologie lässt sich nur verbessern, wenn sowohl die Uni­versität als auch die Praxis an ihren Be­rüh­rungs­ängsten arbeitet. Stu­die­ren­de stellen sich dann von allein ein (Saysches Gesetz: Das Angebot schafft sich seine Nachfrage) und Doktorand:innen haben die Wahl, ob sie an­­schließend an der Universität oder auf anderen beruflichen Feldern ar­bei­ten.

Mit herzlichen Grüßen

Dirk Baecker

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Veröffentlicht

2024-03-06

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