Editorial

Autor/innen

  • Dirk Baecker

Schlagworte:

Krieg, Verteidigung

Abstract

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Dieses Diktum des preußischen Generalmajors Carl von Clausewitz aus seiner Schrift Vom Kriege ist bekannt. Schon weniger bekannt ist sein Hinweis, dass diese »an­de­ren Mittel« dazu neigen, sich zu verselbständigen und die Politik zu ab­sor­bie­ren. Und nahezu vergessen ist seine »philosophische« Definition, dass der Krieg erst mit der Verteidigung entsteht. Denn die Verteidigung will den Kampf, während der Angreifer nur die Eroberung und danach den Frieden will.

Diese Einschätzung bestätigt sich in der Ukraine wie in Israel. Russlands »militärische Spezialoperation« zielt auf nichts als die Unterwerfung; der An­griff der Hamas wollte nichts als den Terror, was immer man damit zu er­rei­chen glaubt. Die Ukraine ebenso wie Israel haben zu ihrer Verteidigung den Kampf und damit den Krieg gewählt. Erst in zweiter Linie behauptet Russ­land, sich gegen den Westen und die NATO zu verteidigen, und be­haup­tet die Hamas, sich gegen die Besatzung zu verteidigen. Im Effekt wol­len alle den Krieg – und alle den Frieden, wenn auch jeweils zu ihren Be­din­gun­gen.

Den »Nebel« des Krieges, von dem Clausewitz schreibt, gibt es somit nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in der Semantik, mit der Aus­bruch und Verlauf des Krieges beschrieben werden.

Diese Semantik ist jedoch entscheidend, wenn es darum geht, die po­li­ti­sche Kontrolle über die »anderen Mittel«, über die Waffen und den Tod, die Zer­störung und Vernichtung, zu behalten. René Girard behauptet in seinem Ver­such, Clausewitz »zu Ende zu denken« (2007), dass von Clausewitz nicht den Mut gehabt hätte, seine wichtigste Entdeckung ernst zu nehmen: die im Krieg angelegte, von keiner Politik zu bremsende, sondern sie ganz im Ge­gen­teil ein­ver­neh­men­de Steigerung der »explodierenden Kräfte« bis zum Äußer­sten. Doch es gibt bei von Clausewitz auch Anhaltspunkte für eine we­niger unaufhaltsame Entwicklung. Der Krieg habe keine eigene Logik, schreibt er, sondern nur eine eigene Grammatik. Er bleibe damit ein In­stru­ment der Politik. Der Krieg sei »ein Gebiet des gesellschaftlichen Lebens«, in dem drei Kräfte aufeinandertreffen, deren Auseinandersetzung seinen Ver­lauf bestimme: Volk, Heer und Regierung. Jede dieser drei Kräfte liefert einen Ansatzpunkt für eine soziologische Analyse – ganz zu schweigen von ihrem Zusammenspiel und den »Friktionen«, denen nicht nur das Heer auf dem Schlachtfeld unterliegt. Das »Volk« steht bei von Clausewitz für die Lei­denschaft, darunter den Hass und die Feindschaft, mit der ein Krieg ver­folgt wird. Das »Heer« steht für das »Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zu­falls«. Innerhalb dieses Spiels entfalten sich Strategie und Taktik, Mut und Ta­lent der Feldherrn. Und die »Regierung« steht für die politischen Zwecke, die verfolgt werden, während die Soldaten auf dem Schlachtfeld sterben.

Mir scheint, dass sich an der »wunderlichen Dreifaltigkeit« von Lei­den­schaft, freiem Willen und bloßem Verstand nicht sehr viel geändert hat, auch wenn unsere Sprache nicht mehr die des 19. Jahrhunderts ist. Das Volk wird zum Gegenstand von massenmedial verstärkter Demagogie, das Heer zum Outlet der Waffenindustrie, worauf bereits Helmuth Plessner hingewiesen hat,[1] und die Regierung zum Spielball ihres Interesses am Selbsterhalt. Damit sind drei Ansatzpunkte definiert, die soziologisch beschrieben werden kön­nen. Welche Rolle spielt die Bevölkerung? Welche Interessen verfolgt die In­dustrie? Und welche Entscheidungen trifft die Regierung?

Es ist ebenso ernüchternd wie ermutigend, zu sehen, dass der Krieg ge­sell­schaftlich eingebettet ist. Er ist keine Naturgewalt, geschweige denn ein Aus­druck des Bösen, sondern ein Vektor in einem Feld komplexer Kräfte. Wir werden darüber wieder häufiger diskutieren müssen. Und wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass auch unsere Beschreibungen und Berichte eine Rolle spielen.

Mit herzlichen Grüßen

Dirk Baecker

 

    [1] Siehe Helmuth Plessner: Über das gegenwärtige Verhältnis zwischen Krieg und Frieden. In Ders., Macht und menschliche Natur. Gesammelte Schriften V, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981, 235–257.

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Veröffentlicht

2025-05-09

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