Editorial

Autor/innen

  • Dirk Baecker

Schlagworte:

Chatbot, Generative Künstliche Intelligenz, Sprachmodelle

Abstract

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

 

wer in diesen Monaten durch eine Universitätsbibliothek geht, in der Gelehrte studieren und Studierende sich auf Prüfungen vorbereiten, den beschleicht leicht ein mulmiges Gefühl. Was unterscheidet eine Universitätsbibliothek von der Hauptplatine eines Computers? Die Bücherregale sind die Arbeitsspeicher, die Tische die Steckplätze und die Leserinnen und Leser die Prozessoren, die aus Texten, unterbrochen von Bildern, Formeln und Ta­bellen, Texte gewinnen. Seit es Chatbots gibt, die mithilfe von multimoda­len großen Sprachmodellen Codes und Texte generieren, die von Prompts an­geregt und ausgelöst werden, stellt sich die Frage, was die Menschen, die eine Bibliothek bevölkern, von den Algorithmen unterscheidet, die in diesen Mo­dellen ihre Heuristik und Kombinatorik entfalten. Wer setzt die Prompts? Nicht ohne Rührung sieht man, dass die Menschen (auch der Autor dieses Editorials) noch glauben, souverän über ihre Prompts entscheiden zu können. Mutig wird eine »Promptologie« (Hannes Bajohr) gefordert, die als Lehre von den guten Fragen zur Mutter aller Wissenschaften wird.

Aber ist die Ausgangsprämisse korrekt? Sind die Prompts, an denen in der Bibliothek gearbeitet werden, nicht längst das Ergebnis dieser Bibliothek? Sind die Fragen der Gelehrten und die Übungen der Studierenden nicht ihrerseits vielfach veranlasst vom bereits vorhandenen Wissen und Nicht­wissen? Erlebt man in einer Bibliothek etwas anderes als die ewige Zirkularität der Produktion von Texten, Bildern, Formeln und Tabellen aus Texten, Bildern, Formeln und Tabellen? Welchen Status haben die Menschen, die sich dort tummeln? Sind sie Energiequellen, Prozessoren oder externe Anschlüsse für Fragen, die sich außerhalb der Bibliothek, vielleicht sogar außerhalb der Universität stellen?

Die Bibliothek ist die Turnhalle der Universität. Hier trainieren Algorithmen, solche, die ihre Übungen bereits perfekt beherrschen, solche, die ihr Kön­nen bei einer Prüfung unter Beweis stellen sollen, und solche, die vielleicht selbst einmal Wissenschaft treiben wollen. Jeder dieser Algorithmen ist ein mehrschichtiges Lernsystem, das jeden Output evaluiert und zur Bestä­tigung oder Neugewichtung seiner Module verwendet. Mit jedem Argument, das entwickelt, mit jedem Satz, der aufgeschrieben wird, stellt sich die Frage, wie vorhersehbar Argument und Satz in welchem Kontext sind. Disruption ist schwierig und kann auf Vorbilder nicht verzichten.

Mich würde ein Chatbot interessieren, der ausschließlich mit soziologischem Wissen arbeitet, national und international. Mit jedem Prompt würde man herausfinden, was man in der Soziologie schon weiß und was nicht. Man könnte Problemstellungen ergänzen, Lücken identifizieren und füllen, Ge­wichtungen korrigieren und so an einem SozGPT arbeiten, der im Fach und für das Fach das Wissen des Fachs repräsentiert. Auf Knopfdruck wären die Perspektiven und Ergebnisse anderer Disziplinen zuschaltbar und wieder abschaltbar, so dass interdisziplinär gearbeitet werden könnte. Ein wei­terer Knopfdruck erschließt beziehungsweise ignoriert Praxiserfahrungen. Und nicht zuletzt könnte man quantitative und qualitative, statistische und hermeneutische, nomologische und interpretative Register ziehen und wieder ausschalten, um herauszufinden, wie ergiebig verschiedene Ansätze sind und ob und wie sie miteinander kombiniert werden können. SozGPT würde die Schranken des Fachs offenbaren, sich innerhalb des Fachs jedoch ohne Vorurteil bewegen.

SozGPT ist als App auf dem Handy oder der Smartwatch unser ständiger Begleiter. Innerhalb und außerhalb der Bibliothek genügen wenige Sekunden, um abzurufen, was wir bereits wissen und was nicht, unterfüttert mit Thesen, Daten, Belegen und ethischen Bedenken. Die Soziologie wird agil. Sie kann es sich leisten, nur noch »im Auftrag« zu arbeiten, denn alles andere, nicht zuletzt die Klassikerlektüre, der Theorievergleich, die Datenerhebung und die postkoloniale Reflexion, wäre schon da. Und dennoch macht sie einen Unterschied, denn für diesen Chatbot kann sich nur soziologisches Wissen als soziologisches Wissen qualifizieren. Schon deswegen würde es sich lohnen, die passenden Algorithmen zu programmieren. Ich ahne jedoch, dass die Texte längst geschrieben und ins Netz gestellt sind, die die Kri­terien definieren, anhand derer soziologisches Wissen exklusiv als soziolo­gisches Wissen identifiziert werden kann.

Mit herzlichen Grüßen

Dirk Baecker

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Veröffentlicht

2024-07-01