Editorial
Abstract
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
für eine Dialektik ohne Synthese werben Stefan Müller und Jürgen Ritsert in ihrer Erinnerung an das Dialektik-Verständnis Adornos in diesem Heft. These und Antithese lassen sich »rational« einander gegenüberstellen, doch anschließend ergibt sich keine Synthese, sondern bestenfalls eine »Vermittlung«, eine »Übersetzung« im Sinne von Latour der einen Seite in die andere, die die Negativität im Verhältnis der beiden Seiten jedoch nicht bereinigt, sondern, wenn man so will, für ein Modell gewinnt.
Daran kann man denken, wenn in diesem Heft erneut die Frage der soziologischen Produktion von Daten zum Thema wird. Der Beitrag von Isabelle Bartram, Tino Plümecke und Peter Wehling fragt nach der Interpretation genetischer Daten durch die Soziogenomik, der Beitrag von Tobias Boll, Tobias Röhl und Daniela Schiek nach dem unterschiedlichen Format quantitativer und qualitativer Daten und der Beitrag von Richard Groß nach den Daten, die von Sprachmodellen auf der Grundlage maschinellen Lernens verarbeitet und präsentiert werden.
Welche Daten wären geeignet, der Dialektik von Schock und Trauma auf die Spur zu kommen, die unsere Gesellschaft im Moment so sehr beschäftigt? Viel ist schon gewonnen, wenn der Unterschied überhaupt gemacht wird. Tom Segev hat in einer Nachrichtensendung im Fernsehen vom »Schock« gesprochen, unter dem Israel nach dem Überfall der Hamas-Terroristen auf Israelis am 7. Oktober 2023 zu leiden hat.[1] Er spricht noch nicht von einem Trauma. Denn zu einem Trauma, das wäre gegen die gegenwärtig inflationäre Verwendung dieses Wortes einzuwenden, gehört mehr. Ein kulturelles Trauma, seinerseits zu unterscheiden von einem individuellen Trauma, so schrieb vor Jahren eine Gruppe von Soziologen um Jeffrey C. Alexander, ist die Form der Verarbeitung eines Schocks vor dem Hintergrund unterschiedlicher Erfahrungen, Wahrnehmungen und Erwartungen in einer mehr oder minder konfliktreichen Situation.[2] Der Akzent liegt auf »Verarbeitung« und damit auf der Frage nach Ressourcen, Partnern und Gelegenheit – beziehungsweise auf deren Fehlen. Ein Trauma ist eine Konstruktion, eine Leistung, eine neue Fatalität. Mithilfe eines Traumas, einer Art immunologischer Reaktion, wird der Schmerz paradoxerweise zugleich eingekapselt, kontinuiert und in zeitlicher Streckung und in einer eigentümlichen Kombination von Verschweigen und Besprechen bearbeitet. Häufig konkurrieren verschiedene Formen der Traumatisierung, solche der ideologischen Ausbeutung, der therapeutischen Bewältigung und vielleicht auch der angemessenen Erinnerung, oft nicht leicht zu unterscheiden.
Welche Daten kann die Soziologie der Gesellschaft zur Verfügung stellen, um die Dialektik von Schock und Trauma zu beschreiben und zu verstehen? Wie kann man den Schock festhalten und die unterschiedlichen Wege zeigen, die eine Traumatisierung nehmen kann? Wie kann man vom Ereignis sprechen und die Vermittlungs- und Übersetzungsleistungen sichtbar machen, die eine in jeder Hinsicht komplexe, streitende, sich historisch vielfach unverfügbare Gesellschaft, verwickelt in Emotionen widersprüchlichster Art aufruft, um Konflikte sowohl zu schärfen als auch zu zähmen?
Weder die Dialektik noch irgendeine Art von Datenproduktion erfüllen einen Selbstzweck. Noch die feinsten Unterschiede der Wissenschaftstheorie und Methodologie stehen vor der Frage, welchen Beitrag sie leisten, um eine Gesellschaft soziologisch, das heißt in Kenntnis der Funktionalität auch ungelöster, immer wieder neu zu adressierender Probleme, über sich aufzuklären.
Mit herzlichen Grüßen
Dirk Baecker
[1] Siehe Tom Segev, »In einem Staat werden wir nicht leben«, interviewt von Christian Sievers, heute journal, 5. November 2023, Online: https://www.zdf.de/nachrichten/ heute-journal/segev-israel-historisch-100.html (Video verfügbar bis 5. November 2024).
[2] So Jeffrey C. Alexander, Ron Eyerman, Bernhard Giesen, Neil J. Smelser und Piotr Sztompka, Cultural Trauma and Collective Identity. Berkeley: University of California Press, 2004.