Editorial
Abstract
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
Fühlen Sie sich auch als Krisengewinnler? Zumindest der Disziplin, der Sie angehören, hat der SPIEGEL im letzten Oktober dieses Etikett verliehen. Die Corona-Pandemie, so die nicht ganz charmante Analogie, habe die Nachfrage nach Toilettenpapier und soziologischen Deutungsangeboten in ungekannte Höhen schnellen lassen. Wenn man die Analyse der Tiefenstruktur solcher Parallelisierungen lieber den Kollegen und Kolleginnen in der Psychologie überlässt, kann man sich über das öffentliche Interesse an soziologischem Wissen vielleicht einfach freuen. In diesen Tagen doziert etwa Kanzlerkandidat Olaf Scholz über Politik in einer »Gesellschaft der Singularitäten«, um gleich noch einen Verweis auf den unter SoziologInnen eher vergessenen dystopischen Essay »The Rise of Meritocracy« von Michael Young hinterherzuschieben. Beeindruckend angewachsen ist inzwischen auch die Sammlung der soziologischen Stimmen zur Corona-Pandemie, die seit einem Jahr auf der Homepage der DGS gesammelt und verlinkt werden. Dabei stehen zumeist die sozialen Effekte der Pandemiebekämpfung im Fokus, etwa für die Verteilung von Care-Arbeit, auf die beispielsweise Jutta Allmendinger und andere immer wieder hinweisen. In den USA erklärt derweil Zeynep Tufecki einem wachsenden Publikum unermüdlich nicht nur die absehbaren Folgen der Pandemie, sondern die Bedeutung sozialer Ursachen für die Verbreitung von Ansteckungen und den Grad der Bereitschaft, Verhaltensregeln einzuhalten. Und in diesem Heft sind gleich zwei hochrangige Wissenschaftspreise für Vertreter unserer Disziplin zu vermelden. Das ist doch irgendwie auch eine gute Nachricht inmitten krisenhafter Zeiten, oder nicht?
Blickt man in das vorliegende Heft, steht dabei nicht zu befürchten, dass die Disziplin vor lauter erfolgreicher »public sociology« die internen Diskussionen aus dem Blick verliert. Axel T. Paul und Matthias Leanza fügen der Debatte um die Perspektiven einer postkolonialen Soziologie, die 2018 in Heft 4 mit der Emaildiskussion zwischen Manuela Boatcă, Julian Go und mir ihren Anfang nahm, ein weiteres Kapitel zu und es wird spannend sein zu sehen, ob nun alle Argumente ausgetauscht wurden.
Kanzlerkandidaten und ihre Soziologielektüre hin oder her – einen ersten Höhepunkt des Superwahljahrs 2021 haben wir übrigens schon hinter uns gebracht: Die Gremienwahlen der DGS sind abgeschlossen und Sie finden in diesem Heft das Wahlprotokoll mit allen Ergebnissen. Für mich bedeutet diese Wahl den Abschied aus dem Vorstand und der Redaktion. Ich danke Karin Lange und Sylke Nissen für die Zusammenarbeit in den letzten vier Jahren, die mir meine Arbeit als Herausgeberin stets leicht gemacht hat, und freue mich auf Heft 3 der SOZIOLOGIE – dann wieder als Leserin.
Herzlich, Ihre
Sina Farzin