Editorial

Authors

  • Dirk Baecker

Abstract

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Soziologie sichert sich ihre fachliche Unabhängigkeit gegenüber gesellschaftlichen Ansprüchen, indem sie in der Gesellschaft Perspektiven der Beschreibung und Erklärung vertritt, die gegenüber denen der Akteure ›inkongruent‹ sind. Das gelang zuallererst mit dem Gesellschaftsbegriff selbst, der schon bei Tarde, Durkheim, Simmel und Weber keinen Zusammenhang von Institutionen, Werten, Normen und Regeln, sondern eine intervenierende Variable bezeichnet, die bei allem sozialen Handeln und Erleben zu berücksichtigen ist, aber nicht dingfest gemacht werden kann. Das gelang mit Parsons’ Begriff der Bestandserhaltung, mit Colemans Begriff der Mikro/Makro-Verknüpfung, mit Bourdieus Begriff des Habitus und Luhmanns Begriff der Reduktion von Komplexität. Es gelingt auch dann, wenn man in der empirischen Sozialforschung auf Ungleichheit, in der kritischen Theorie auf die Dialektik der Aufklärung und in der Sozialtheorie auf eine reflexive Moderne hinweist. Auch mit Begriffen wie einer kapitalistischen, patriarchalen oder postkolonialen Gesellschaft kann man viele Akteure auf dem falschen Fuß erwischen. Jedes Mal macht eine Soziologie auf sich aufmerksam, die die Dinge anders sieht und so die gesellschaftliche Selbstbeschreibung mit unkalkulierbaren Effekten anreichert.
An diese etwas lästige Rolle der Soziologie ist zu erinnern, wenn sich in der Gesellschaft Sprachregelungen durchsetzen, die gefährliche blinde Flecken aufweisen. Der jüngste Fall scheint mir die Rede von der ›regelbasierten Ordnung‹ zu sein, an der sich die Außenpolitik der Bundesrepublik orientiere. Die Vorstellung einer regelbasierten Ordnung stammt aus der Beschreibung der internationalen Politik und bezeichnet wahlweise entweder den mit dem Völkerrecht, der UNO und den internationalen Institutionen der sogenannten Nachkriegszeit gesetzten rechtlichen Rahmen des Handelns von Staaten oder jene Ordnung, die sich mit der Dominanz der USA in den Währungen, auf den Märkten und auf dem Feld der Diplomatie in der Weltgesellschaft faktisch durchgesetzt hat. Zur Ideologie wird diese Vorstellung, wenn das eine mit dem anderen gleichgesetzt wird, also Regelhaftigkeit mit Rechtlichkeit gleichgesetzt wird. Man verliert dann den Blick für die Gestaltbarkeit des Rechts, für die Flexibilität der Regeln und für die Notwendigkeit von Verhandlungen.
Vor allem jedoch gerät der Eigensinn der Politik in den blinden Fleck. Politik hat es dann nicht mehr mit der Aufrechterhaltung eines Gewaltmonopols, das heißt mit der gewaltandrohenden Kontrolle der Ausübung von Gewalt zu tun, sondern mit dem Werben für einen Frieden, dessen Störung man irritiert zur Kenntnis nimmt. Zuweilen gilt dies auch innenpolitisch. Hier sind es die Regeln der Tradition, des Liberalismus, des Wohlfahrtsstaats oder der ökologischen Transformation, die mehr oder minder unbefragt den Takt politischer Entscheidungen vorgeben, in parlamentarischen Reden beschworen und in ministerielles und behördliches Handeln umgesetzt werden. Politik ist, was als Streit zwischen diesen Regeln von ihr übrig bleibt. Die Kunst der Verhandlung hat das Nachsehen.
Es entbehrt daher nicht der Ironie, wenn, worauf Steffen Mau in seinem Buch »Ungleich vereint« hinweist, ausgerechnet eine Bevölkerung, die das Experiment eines wissenschaftlichen Sozialismus über sich hat ergehen lassen müssen, in Deutschland ein Politikdefizit diagnostiziert. Eine Diktatur, die sich an ihre eigene Willkür nicht halten kann, hinterlässt einen schärferen Blick für den Eigensinn der Politik als eine Demokratie, die immer wieder behauptet, nur im Modus eines geregelten Rechtsstaats zu entscheiden. Wenn alles schon entschieden ist, einschließlich des Modus des Entscheidens, ist nichts mehr zu entscheiden. Zu einem Demokratiedefizit wird dann, dass auch nichts mehr zur Entscheidung gestellt wird.
Inkongruent ist, dass die Soziologie abhängig von ihrem Gesellschaftsbegriff auf eine Differenz zwischen Politik und Recht hinweist, die auf keine regelbasierte Ordnung reduziert werden kann. Inkongruent ist, dass damit nicht dem Frieden, sondern der demokratisch entschiedenen Gewaltkontrolle (in der Politik) und der verfahrenslegitimierten Konfliktregulierung (im Recht) das erste Wort erteilt wird. Kongruent ist, dass sich die Soziologie mit dieser Inkongruenz als Verletzung des Latenzschutzes der Gesellschaft reflektieren muss. Aber es hilft ja nicht. Nur so kann sich die Gesellschaft ihrer Mittel vergewissern und »Polarisierungsunternehmern« (Mau), die vom blinden Fleck profitieren, entgegentreten.

Mit herzlichen Grüßen
Dirk Baecker

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Published

2025-11-24

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