Editorial

Autor/innen

  • Dirk Baecker

Abstract

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

gesellschaftliche Katastrophen, so hat Lars Clausen festgestellt, sind keine Ereignisse, sondern Prozesse. Sie haben eine Vorgeschichte, einen vielleicht nur uneindeutigen Höhepunkt und ein schlimmes Ende, wenn es nicht gelingt, aus ihrem nicht unbedingt fatalen Ablauf auszusteigen und mithilfe von Abkürzungen in frühere Phasen zurückzugelangen und dort Korrekturen vorzunehmen.

Will man soziologisch auf die Corona-Pandemie oder den Krieg Russlands gegen die Ukraine reagieren, ist man gut beraten, sich an Clausens FAKKEL-Modell zu halten. Die Katastrophe beginnt, so Clausen, lange bevor sie eintritt. Sie beginnt mit der Friedensstiftung (F) durch Rettung vor zentralen Risiken. Es kann nur passieren, was so oder so ähnlich schon einmal passiert ist. Man hat eine Pandemie bekämpft, man hat einen Krieg geführt. Wie und mit welchen Verlusten man das überstanden hat, hält die Geschichtsschreibung fest. Der Soziologie fällt auf, dass die Friedensstiftung die Gesellschaft gespalten hat in die Experten, die wissen, wie man eine Pandemie bekämpft und einen Krieg führt, und die Laien, die erleichtert sind, dass es vorbei ist. Es kommt zu einer Alltagsbildung (A), die sich einbildet, es ab sofort mit normalen Verhältnissen zu tun zu haben, und wenig später zu einer Klassenbildung (K), in der die Facheliten ihre gewonnenen Privilegien schützen, indem sie das Wissen um die Risiken monopolisieren und geheim werden lassen. Der überstandene Stress schützt diejenigen, die geholfen haben, ihn zu überstehen, und wiegt diejenigen in einer etwas ungläubigen Sicherheit, die verschont wurden.
So glaubten wir uns in jener friedlichen europäischen Nachkriegszeit medizinisch und militärisch geschützt, ohne nachzufragen, ob biologische und menschliche Akteure das möglicherweise anders sehen. Ein Infektionsschutzgesetz auf der einen Seite und ein Verteidigungsbudget auf der anderen Seite schienen Garantie genug, um Übergriffen in die Wildnis ebenso wie militärischen Eigeninteressen freien Lauf zu lassen. Wer es wissen wollte, konnte es wissen, doch viel attraktiver war das Vertrauen auf einen friedlichen Fortschritt.

Die Sollbruchstelle im Übergang zur nächsten Phase der gesellschaftlichen Katastrophe, dem Eintritt der Katastrophe (K), ist ein allen zur Verfügung stehendes und doch von niemandem genutztes Wissen, so als sei der gesellschaftliche Zustand in der Aufspaltung in Experten und Laien eingefroren. Dafür ist es noch nicht einmal erforderlich, dass man genauer wüsste, wer die Expert:innen und wer die Laien sind. Selbst die Klassenbil-dung, von der Clausen spricht, sortiert nicht unbedingt die Leute, sondern schafft jenen blinden Fleck, unter dem alle, und alle wissen es, zu leiden haben. Man hat sich geholfen und ist paradoxerweise genau deswegen hilflos.

Also tritt mit der Liquidation aller Werte (L) die letzte Phase der Katastrophe ein, das Ende der Gesellschaft, wenn man es nicht schafft, den Weg in eine frühere Phase des gesellschaftlichen Prozesses zu finden und dort die erforderlichen Korrekturen vorzunehmen.

Wir sind am 24. Februar 2022 ebenso wenig in einer neuen Welt aufgewacht wie am 11. März 2020 (WHO erklärt COVID-19-Epidemie zur Pandemie), am 11. September 2001 oder am 1. September 1939. Wir sahen es kommen, wir wussten Bescheid, doch niemand konnte es verhindern.
Andererseits machen wir bereits Erfahrungen mit Versuchen, die Vorurteilsstruktur der Gesellschaft aufzubrechen. Die ökologische Bewegung, Fridays for Future, Scientists for Future und andere Initiativen unterlaufen die Unterscheidung zwischen Experten und Laien. Der Feminismus und der Postkolonialismus attackieren strukturelle und mentale Lock-Ins. Wir identifizieren toxische Verhaltensmuster, wo immer sie uns begegnen. In Clausens Modell ist das die Phase E, Ende kollektiver Abwehrstrategien. Die Nerven dieser Gesellschaft liegen blank. In dem Moment, in dem sich die Klimakrise zur Klimakatastrophe auswächst, entdecken wir ein Prozessmodell, das zu beschreiben erlaubt, dass die Alltagsbildung in der Gesellschaft (A) Teil des Problems und nicht der Lösung ist. Darin liegt keinerlei Beruhigung.

Mit herzlichen Grüßen
Dirk Baecker

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Veröffentlicht

2022-04-01

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