Editorial

Autor/innen

  • Dirk Baecker

Abstract

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

nach wie vor spielt sich vor unser aller Augen eins der größten Realexperimente ab, das wir zu unseren Lebzeiten das zweifelhafte Glück haben, beobachten zu dürfen. Und nein, ich meine nicht die Globalisierung, die Digitalisierung und den Klimawandel, sondern kleinformatiger die Reaktion der Gesellschaft auf die Pandemie. Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel sind Langfristtrends, die es erschweren, ein für die experimentelle Auswertung eindeutiges Vorher und Nachher zu identifizieren. Im Fall der Pandemie jedoch haben wir das Vorher, vielleicht bereits etwas idealisiert, noch deutlich vor den Augen und können daher Effekt und Wirkung unterscheiden.

Nach wie vor muss verblüffen, wie schnell sich die erforderlichen Verhaltensumstellungen in einem überwiegenden Teil der Bevölkerung weltweit durchsetzen konnten. Gab es je einen besseren Beleg für die Koproduktion lokaler und globaler Faktoren in der Determination unseres Verhaltens? Und spürt nicht jeder von uns die Reibungen, die zwischen diesen Faktoren der Normalfall sind? Gab es je einen besseren Beleg für den Geniestreich, mit dem Talcott Parsons jede Handlung auf die erfolgreiche Bearbeitung von vier und nur vier funktionalen Anforderungen reduzierte? Die Maske und die Impfung als Anpassung an die natürlichen Bedingungen einer Handlung, der persönliche Wille, gesund zu bleiben, die Orientierung am Handeln aller anderen als Form der sozialen Integration und nicht zuletzt die Reflexion auf den Wert der Gesundheit als Form der solidarischen Rücksicht auf die Vulnerablen? Ich verzichte darauf, die pattern variables zu zitieren, um die Dilemmata zu rekonstruieren, die jedes Handeln beim Umgang mit diesen funktionalen Anforderungen zu bewältigen hat. Schließlich ist dies hier ein Editorial, kein soziologischer Aufsatz.
Ich will auf etwas Anderes hinaus. Wie reagiert die Soziologie auf die weniger erfreulichen Seiten der Pandemie? Welchen Reim machen wir uns auf die ungeheuerliche Zögerlichkeit einer Politik, die selbst vor dem Hintergrund eines Wahlerfolgs und einer neuen Regierungsbildung hierzulande auf eine Art und Weise laviert, dass man sich fragt, welchem sozialen Protest man damit aus dem Weg gehen will, welche Kraft man diesem Protest zutraut und wie wenige Mittel man gegen ihn in der Hand zu haben glaubt. Gab es je einen besseren Beleg für eine Politik der Gesellschaft, das heißt für eine kaum noch zu durchschauende Verwobenheit der Politik in die Gesellschaft? Gab es je einen besseren Beleg für die Offenheit eines geschlossenen, sich in fröhlicher Autopoiesis reproduzierenden Systems?

Aber selbst das beschäftigt mich nicht so sehr wie ein dritter Gedanke. Welchen Reim machen wir uns auf die Bewegung der Coronaleugner und Impfgegner? Viele Kritikpunkte lassen sich nachvollziehen, die Unentschlossenheit der Politik bis hin zum Hin und Her um eine Beibehaltung der nationalen epidemischen Lage auf dem Höhepunkt der 4. Welle, die seltsame Preisgestaltung der EU-Kommission beim Einkauf des Impfstoffs (taz, 4. November 2021) und natürlich die Vorsicht gegenüber den verschiedenen Impfstoffen. Doch welche Stimmung motiviert die Coronaleugner und Impfgegner? Überdruss, Müdigkeit und Misstrauen, gut, aber das gilt für alle. Ich sehe vor allem einen unglaublichen Trotz. Ich sehe eine Unfähigkeit, einen Gegner – das Virus – zu akzeptieren, der nicht mit sich verhandeln lässt, und sich einer Faktizität und Notwendigkeit zu stellen, die immer noch einen Interpretationsspielraum lässt, aber als solche nicht zu negieren sind.

Alles könnte anders sein, und ich kann alles ändern. Das ist der latente Schlachtruf einer Bewegung, die sicherlich überrascht wäre, wenn man sie zur Speerspitze der Verteidigung einer kontingenten, also freien Gesellschaft erklären würde. Welche Mittel hat die Soziologie, die Grenzen dieser Kontingenz aufzuzeigen? Niklas Luhmann sprach von einer »soziologischen Aufklärung«, um die Grenzen der Kontingenz im Zusammenspiel der gesellschaftlichen Systeme zu beschreiben. Heute jedoch haben wir es mit Grenzen der Kontingenz zu tun, die in jener Natur liegen, der wir zoonotisch zu nahe rücken. Das A in Parsons’ AGIL-Schema wird zum Flaschenhals. Allerorten wird ein »neuer« Materialismus ausgerufen, um die Übertreibungen des Konstruktivismus in die Schranken zu weisen. Aber wie beschreiben und erklären wir das Phänomen, dass die Gesellschaft sich mit ihrer Berufung auf die Kontingenz in einem Moment vergiftet, in dem die Anerkennung einer Notwendigkeit das schlichte Ergebnis einer (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnis ist?

Bestimmt denken jetzt manche von Ihnen: alles ein Ergebnis effektiver Ungleichheit. Und falsch wäre auch das nicht.

Mit herzlichen Grüßen
Dirk Baecker

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Veröffentlicht

2022-01-01

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