Editorial
Keywords:
Sozialdemokratie, Kapitalismus, VerteilungAbstract
Solange es so etwas wie Kapitalismus gibt,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
muss es auch so etwas wie Sozialdemokratie geben.
Kapitalismus ist ein zentral auf Konkurrenz eingestelltes System, das einerseits stark bei der Herstellung individuellen materiellen Wohlstands, andererseits schwach bei der Bereitstellung von Kollektivgütern ist. Insbesondere ist es schwach bei der angemessenen Verteilung des Wohlstands und darum bei der Bereitstellung des Kollektivguts »Stabilität des Kapitalismus«. Sozialdemokratie ist ein politisch über mehr als ein Jahrhundert fortgeschriebenes Rahmenkonzept für eine Politik, die zu Gunsten der Schwächeren in die Primärverteilung eingreift, den Kapitalismus damit zugleich ändert und erhält.
So. Jetzt lässt sich spezifizieren, was mit dem Wort »muss« hier gemeint ist. Ich schlage vor, es im Sinne eines schwachen Funktionalismus zu verstehen und zu fragen: Was passiert, wenn der Kapitalismus die Sozialdemokratie abschüttelt, oder die Sozialdemokratie den Kapitalismus im Stich lässt? Wenn die Eingangsbemerkungen zutreffen, kann die Antwort nur zu der Hypothese führen: Ohne so etwas wie Sozialdemokratie ist vermutlich das Kollektivgut »Stabilität des Kapitalismus« gefährdet.
Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Sozialdemokratie im Rahmen eines solchen schwachen Funktionalismus zu analysieren, hat mehrere Vorteile. In erster Linie erschließt sich ein weites soziologisches Forschungsfeld. Warum setzen sich weder die Interessen der unmittelbar Benachteiligten, noch das breite Unbehagen an der gegenwärtigen Einkommens- und Vermögensentwicklung, noch die Einsicht der vom Kapitalismus unmittelbar Begünstigten in die funktionale Notwendigkeit sozialdemokratischer Politik in sozialdemokratische Politik um? Welche Wirkungen haben diese Faktoren denn sonst? Bewirken sie überhaupt etwas? Gehen sie ins Leere oder werden sie zu Impulsen, die in andere Richtungen wirken und anderen politischen Kräften nützen? Darüber hinaus ermöglicht diese Art von Fragen, Interessen statt Bekenntnisse zu Werten ins Zentrum der soziologischen Beobachtung der Sozialdemokratie zu rücken.
Das hat den Vorteil, dass man die sozialdemokratische Werterhetorik nicht soziologisch verdoppelt, sondern zum Untersuchungsgegenstand machen kann. Ebenso lässt sich der Vermutung nachgehen, dass Werte in der Parteipolitik nur bedingt brauchbar sind. Für dominante Parteien kann ihr Bekenntnis zu Werten als sinnvolle Selbstverpflichtung wirken. Parteien in schwachen Positionen geraten mit Wertbekenntnissen leicht vor tragische Alternativen, sobald sie politische Kompromisse eingehen müssen: Entweder die Werte verraten oder mit den Werten untergehen. Dazu kommt, dass man am Beispiel der Sozialdemokratie die Vermutung testen kann, dass Werte oft Chiffren für nicht durchsetzbare Interessen sind. Von hier führt ein kurzer Weg zu der grundlegenden soziologischen Frage, welche Rolle Werte überhaupt in der Politik spielen können.
Es ist empfehlenswert, sich bei all diesen Fragen von einer Art methodischer Nicht-Identifikation leiten zu lassen und die Sozialdemokratie einfach als ein interessantes soziologisches Forschungsobjekt zu nehmen. Das hat den Vorteil, dass man weder dafür noch dagegen sein muss und Untersuchungen ohne persönliche Parteinahme verfolgen kann: Also weder für eine Partei Partei zu nehmen, noch sich von einer Partei vereinnahmen zu lassen. Wobei die Sozialdemokratie diesbezüglich eine Rückkoppelung eingebaut hat. Gegen Beratung von Leuten ohne Stallgeruch ist sie ohnehin resistent.
Das alles klingt nach einer affirmativen Wendung des alten Vorwurfs, die Sozialdemokratie sei der Arzt am Krankenbett des Kapitalismus. Ich weiß. Aber ehe man diesen Vorwurf erneuert, bedenke man: Der Vorwurf ließ sich plausibel nur vor dem Hintergrund der Erwartung formulieren, dass nach dem Kapitalismus etwas Besseres kommen werde. Leider findet man solche Erwartungen nur noch in der Aktenablage der Geschichte. Ein distanziert-nüchterner Blick auf einen Kapitalismus ohne Sozialdemokratie zeigt: Nach dem Kapitalismus kommt ein üblerer Kapitalismus. Einer, der schlechter funktioniert und vielen weniger bietet. Vermutlich.
Ihr
Georg Vobruba