Editorial

Authors

  • Sina Farzin

Abstract

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
2018 hat uns Hubert Knoblauch auf der Mitgliederversammlung der DGS in Göttingen zum Kongress 2020 nach Berlin eingeladen. Dass er und sein Team pandemiebedingt einen fast fertig organisierten Kongress über den Sommer mal eben schnell digitalisieren würden, konnte damals niemand ahnen. Kongressplanung findet, wenn sie gut läuft, und das tut sie bei der DGS natürlich, zumeist hinter den Kulissen statt. Als Besucherin wird man nur kurz aufmerksam, wenn doch mal etwas schiefläuft oder auch etwas besonders bemerkenswert Gutes dazukommt (wie etwa die Candy Bar in Bamberg, aber das ist eine andere Geschichte). Was aber macht ein Planungsteam, wenn bei laufendem Betrieb die Kulissen auf einmal abgebaut werden müssen? Das haben wir Hubert Knoblauch und Stefanie Pawlak gefragt, die in diesem Heft erläutern, wie es zu der Entscheidung kam, den Kongress digital abzuhalten, und welche Herausforderungen damit verbunden sind. 2022, das hoffe ich sehr, werden wir uns dann wieder vor Ort begegnen können.

Zumindest liegen Semesterstart und Kongress aufgrund der Verschiebung des Wintersemesters an den meisten Standorten nun zeitlich noch weiter als sonst auseinander, so dass die üblichen Konflikte bei der Verteilung des eigenen Zeitbudgets zwischen Vortragsvorbereitung, Kongressbesuch und Lehrvorbereitung etwas weniger scharf ausfallen dürften. Aber vielleicht handelt es sich bei den häufig vernommenen Klagen um die Verdichtung und/oder Ausweitung der Arbeitszeit auch eher um ein Wahrnehmungs- oder Organisationsphänomen. In einer gerade veröffentlichten Studie des International Centre for Higher Education Research Kassel weisen die Daten zumindest auf einen kontinuierlichen Rückgang der Wochenarbeitszeit bei Professor*innen und wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen in den letzten drei Jahrzehnten hin. Ob wirklich weniger zu tun ist, ob man vor dreißig Jahren andere Dinge als Arbeit wahrnahm oder ob sich die Bandbreite der Tätigkeiten vergrößert hat, die auch Wissenschaftler*innen neben ihrem Beruf erledigen müssen oder möchten, zeigt die Studie nicht. Einen ausführlichen Blick auf die aktuelle Lage des studentischen Workloads werfen in diesem Heft Daniel Großmann und Tobias Wolbring, und auch hier lässt sich die pauschale Annahme einer chronischen zeitlichen Überlastung der Studierenden nicht so einfach bestätigen.

Ein Effekt derartiger soziologischer Selbstaufklärung könnte sein, dass Sie sich guten Gewissens Zeit zum schlendernden Lesen nehmen, bevor das Wintersemester seine verzögerte Fahrt aufnimmt. Romane, in denen die Soziologie thematisch eine prominente Stellung einnimmt, sind ja eher rare Ereignisse auf Buchpreis- und Bestsellerlisten. Eine Ausnahme ist dieses Jahr der vielverkaufte und vielnominierte Titel »Serpentinen« von Bov Bjerg. Das Buch eignet sich ob der eher dunklen Thematik (Väter und Söhne verbunden durch Depressionen und deutsche Geschichte) hervorragend als Herbstlektüre, interessiert an dieser Stelle aber vor allem aufgrund des Berufs, den der Protagonist gewählt hat: Er ist Soziologieprofessor. Als Aufsteiger fühlt er sich fremd unter Gleichen, hat Elias und Bourdieu sowie mindestens alle gelesen, »die davor, danach und dazwischen kamen«, und seziert nun dementsprechend geschult das neue und doch eigene Milieu recht unbarmherzig. Schlechter weg als die Fachkolleg*innen kommen im Fegefeuer der Distinktionsspiele dabei seiner Meinung nach – so viel Trost darf vorweg gegeben werden – nur noch die Jurist*innen. Immerhin.

Herzlich, Ihre
Sina Farzin

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Published

2020-10-01